7.22 PARASITISMUS
Entlarvt!
Schmetterlingslarve täuscht Ameisenstaat als falsche Königin
Nils Ehrenberg
Majestätsbeleidigung in kleinem Maßstab: Die Larve eines Schmetterlings setzt sich einfach selbst die Krone auf und lässt sich im Ameisenbau von fleißigen Arbeiterinnen verwöhnen. Wie gelingt ihr das?
Maculinea rebeli ist der Hape Kerkeling der Insektenwelt. Kerkeling gelang es, verkleidet als niederländische Königin Beatrix und mit den in perfektem holländischem Akzent gesprochenen Worten "Jetzt gehen wir lecker Mittag essen!" die Staatsbediensteten des Schlosses Bellevue zu foppen - und damit Fernsehgeschichte zu schreiben. Was Kerkeling im Jahr 1991 einige Minuten lang schaffte, beherrscht eine betrügerische Schmetterlingslarve in Perfektion - sie schleicht sich als falsche Majestät in den Ameisenstaat ein und lässt sich dort über Monate königlich bedienen.
Ameisenbläuling auf Kreuzenzian
Es
ist der Höhepunkt der Jugend dieses Insekts: Kaum geschlüpft verwüstet die Raupe
des Kreuzenzian-Ameisenbläulings zunächst ihr Elternhaus - die Blüte eben jenes
Kreuzenzians - und frisst in dessen Fruchtknoten die Samen auf. Danach lässt sie
sich zu Boden fallen und von Arbeitern der Knotenameise (Myrmica schencki) in deren Nest
schleppen. Dort angelangt genießt der Eindringling alle Vorzüge eines echten
"Royals": Die Larve wird von Wachen beschützt, bei Angriffen auf den Staat
bevorzugt in Sicherheit gebracht und bekommt von Brutpflegerinnen erstklassige
Speisen serviert - oder besser: hervor gewürgt. Die aufopferungsvolle Hingabe
geht sogar so weit, dass die Ameisen bei Versorgungsknappheit die eigenen Larven
töten und an den hochherrschaftlichen Sozialparasiten verfüttern.
Bislang
konnte man sich nicht erklären, warum das Kuckuckskind gegenüber dem
Ameisennachwuchs so extrem bevorzugt wird. Die bereits bekannte chemische
Tarnung durch Sekretion von Botenstoffen, die denen auf der Haut von
Ameisenlarven zum Verwechseln ähnlich sind, rechtfertigte allenfalls eine
Gleichbehandlung. Allerdings fand Jeremy Thomas von der University of Oxford mit
seinen Kollegen heraus, dass durch Stallgeruch allein noch nicht einmal eine
Gleichstellung erreicht wird. Als sie den Arbeitern bei einer simulierten
Attacke auf das Nest die Wahl ließen, retteten die Ameisen vor allem Attrappen,
welche mit Pheromonen der eigenen Larven bestäubt waren - Dummies, die nach der
abgekupferten Version der Bläulingsraupe rochen, blieben zunächst links liegen.
Im Lebendversuch wurden dagegen genau diese zuerst in Sicherheit gebracht.
Offenbar hatten die Schmetterlingslarven noch einen weiteren Trick auf
Lager.
Der entscheidende Hinweis darauf ergab sich aus einer anderen
Beobachtung der Forscher. Wenn sie eine Bläulingslarve direkt neben einer echten
Königin positionierten, war diese gar nicht erfreut und behandelte sie wie eine
Rivalin. Der Eindringling schien also zusätzlich zum Duft der Ameisenlarven ein
besonderes königliches Merkmal zu imitieren. Thomas und seine Mitarbeiter hatten
dabei die Stimme des Staatsoberhauptes im Verdacht.
Wie viele andere
Insekten erzeugen auch Ameisen Töne durch Stridulation: Sie reiben ihre
Mundwerkzeuge an einer speziellen Schrilloberfläche am hinteren Körpersegment.
Und die Ameisenkönigin artikuliert sich offensichtlich völlig anders als ihre
Untertanen: Spielten die Forscher ihrer Laborkolonie beide Tonarten vor, kamen
die Bediensteten angelaufen, versammelten sich um den Lautsprecher und
betasteten die etwas zu groß geratene Schwester mit ihren Antennen wie eine
Staatsangehörige. Vernahmen sie jedoch die Stimme der Königin, verharrten
zusätzlich einige Arbeiter auf dem Lautsprecher in einer bewegungslosen
Habachtstellung.
Die Raupen und Puppen des Kreuzenzian-Ameisenbläulings
geben ebenfalls Töne von sich, die denen der Königin sehr ähnlich sind.
Beschallten die Forscher die Ameisen damit, glaubten einige Arbeiter offenbar,
die Stimme ihrer Majestät zu hören und standen wie zuvor beim Original
gerade.
Per Anhalter ins Nest
Thomas
und seine Kollegen schließen daraus, dass die chemische Verkleidung der
Bläulingslarven in erster Linie dazu dient, von den Arbeiterinnen als eine der
ihren erkannt und in den Ameisenbau getragen zu werden. Dort angelangt nutzt die
Larve dann zusätzlich ihr stimmliches Talent, um die Königin zu imitieren und
einen bevorzugten Status im Kastensystem des Staats zu erlangen. So wird sie
sowohl bei der Fütterung als auch bei Rettungsmaßnahmen im Kriegsfall von den
Arbeitern bevorzugt, die in der falschen Königin einen höheren Wert sehen als in
den eigenen Larven.
Der Schwindel bleibt jedoch nicht unentdeckt:
Schlüpft nach der Metamorphose aus der Puppe der fertige Schmetterling, dem die
tarnenden Pheromone fehlen, wird er von den Ameisen als Feind erkannt und
angegriffen. Der Ameisenbläuling muss deshalb schleunigst die Flucht antreten
und den Bau zügig verlassen, um nicht getötet zu werden. Für den Staatsapparat
der Ameisen bedeutet dies aber nur eine kurzzeitige Erleichterung: Die nächste
Generation falscher Königinnen steht schon in den Startlöchern und wartet nur
darauf, es den listigen Eltern gleich zu tun.